Die Komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD) / das Bindungstrauma und ihre Auswirkung auf das spätere Essverhalten

Wer sich bis hierher angesprochen fühlt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Bindungs- oder komplexes Trauma erlebt.
Im Gegensatz zum Schocktrauma, das durch ein ein- oder auch mehrmaliges bewusstes Ereignis verursacht werden kann (Unfall, Erdbeben etc) ist ein Bindungstrauma durch bereits frühkindliche und wiederholte und oftmals nicht mehr bewusste schädliche Einflüsse wie Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch, Verlassenwerden und Bedrohung verursacht worden.
Beim Kleinkind rufen solche traumatischen Ereignisse einen enormen Anstieg der Anspannung und eine Reizüberfluting („amygdala hijack“, Pete Walker) hervor, für deren Verarbeitung noch die kognitiven Strukturen fehlen.
Wer einmal ein Baby oder ganz kleines Kind beobachtet hat, weiß, dass es mit dem ganzen Körper fühlt. Es kann zappeln vor Glück oder sich in Verzweiflung krümmen.
Ausgeliefert in einem Gefühl akuter Gefahr in Verbindung mit Ohnmacht und Hilflosigkeit wird eine Überflutung von Panik und Verzweiflung hervorgerufen.
Wenn dann Hilfe in Form einer freundlichen Bindungsperson (z. B. der Mutter ) naht, ist diese Reaktion ganz rasch vorbei und das Baby oder Kleinkind wird durch ihre Anwesenheit beruhigt. Alles ist wieder gut.
Das Kind hat die Rückmeldung bekommen, dass der Stresszustand vorbei ist.
Bekommt ein Kind keine Rückmeldung, dass der Stress oder das bedrohliche Ereignis zuende ist oder steigt der Stress gar noch an bei gleichzeitiger Ohnmacht, so dass sich die Gefühle immer außerhalb des Toleranzfensters („window of tolerance“, Daniel Siegel) befinden, dann kann das System in den „shutdown“ oder Totstellreflex gehen.
Eine abgeschwächte Form besteht darin, alles zu verdrängen, abzuschalten, zu dissoziieren, sich zu betäuben und sich eine Fantasiewelt aufzubauen. Zunächst tobt hinter der äußerlich ruhigen Facade noch eine enorme Spannungsenergie, aber wenn Ausweichen unmöglich ist, sinkt auch diese später in sich zusammen..

Der frühe, unverarbeitbare toxische Stress führt zu einem Schock im System und anschließend zu einem Weiterentwicklungsstopp auf verschiedenen Ebenen (z. B. körperlich zu Überspannung, kognitiv zur Wahrnehmung vermeintlicher Bedrohung, emotional zum Implodieren oder Explodieren). Ganz so, als wären wir noch mitten im Trauma.

In unterschiedlichem Ausmaß kann das Vertrauen in andere Menschen, in unsere eigene Wahrnehmung und in die Welt im Allgemeinen beeinträchtigt werden.
Es kann passieren, dass wir uns nicht trennen können und in toxischen Beziehungen hängen bleiben.
Es kann sein, dass wir emotionale „flashbacks“ (Pete Walker) in Form von Überreaktionen (Wutanfälle, Angstanfälle) bekommen und nicht mehr situationsadäquat reagieren.
Oder die Betroffenen wundern sich viele Jahre später, wie es sein kann, dass sie über Wochen Heißhungeranfälle hatten- einen nach dem anderen- und zehn Kilo zugenommen haben. Wie in Trance.
Oder aber jede Eigeninitiative ging verloren und der Mensch gleitet in die Erstarrung und in die Depression.
Unzureichende Co-Regulation durch Bezugspersonen womöglich in Verbindung mit Vorwürfen („Du bist…“) lassen bei Betroffenen den Eindruck entstehen, dass sie selbst das Problem sind („Ich bin…“)
Daraus entstehen Scham und Schuldgefühle und lassen das Selbstwertgefühl schrumpfen. Eine Sehnsucht nach Bindung ruft sofort eine Angst vor Bindung hervor. Es entsteht eine belastete Bindung, wenn nicht gar eine Bindungsstörung.

Aber: Die Muskulatur in Mund und Hals ist bereits beim Neugeborenen gut entwickelt und es ist überlebenswichtig, dass wir von Anfang an saugen, lutschen, schlucken und verdauen können. Wenn wir nun gestillt werden, dann ist auch unsere Mutter bei uns und wir erfahren Trost, Wärme, Geborgenheit, Schutz und Beruhigung – kurz, eine Welt, die in Ordnung ist.
Und diesen Urzustand können wir uns später selbst beschaffen indem wir essen. Das heißt, im Essanfall kehren wir kurzzeitig in diesen paradiesischen Zustand zurück.
Eigentlich genial, dieser „Lösungsversuch“. Übrigens: Singen betätigt weitgehend dieselben Muskeln…